Es gibt die Geschichte eines Indianers, der in der Wüste von Nevada am Highway steht und trampt. Ein Weißer hält an und nimmt ihn ein Stück mit. Nach einer gewissen Zeit, mitten in der Einöde, bittet der Indianer den Weißen anzuhalten, um ihn aussteigen zu lassen. „Aber hier ist doch nichts. Wieso willst du hier schon aussteigen?“ fragt der Weiße verwundert. Da antwortet der Indianer: „"Ich habe unterwegs meine Seele verloren. Ich möchte warten, bis sie nachgekommen ist".

      Wer kennt diese Erfahrung nicht? Wir verreisen mit dem Auto oder dem Zug, steigen nach Hunderten von Kilometern aus und sind da. Aber sind wir wirklich da? Oft dauert es Stunden, manchmal sogar Tage, bis wir uns in der neuen Umgebung angekommen fühlen. Bis wir sagen können: wir sind anwesend, wir sind da.

      Doch lassen wir uns, wie der Indianer, die Zeit, wirklich erst anzukommen? Meist geht das Leben trotzdem weiter. Wir begrüßen in der neuen Umgebung Menschen, erledigen die äußeren Alltagserfordernisse ungeachtet unseres Gefühls, noch gar nicht da zu sein. Wir sind noch nicht angekommen, aber funktionieren und handeln bereits weiter.

      In diesen Situationen haben wir kein Gefühl für uns. Wir fühlen uns fremd oder schlimmer sogar, wie ein Zombie, merkwürdig ausgehöhlt. Es ist ein Erleben, dass wir nicht in der Situation drin sind und auch, dass wir nicht in uns drin sind. In solchen Momenten wird uns auf eine unangenehme Weise bewusst, dass wir nicht anwesend, nicht präsent sind.

      Eigentlich sind sie kostbare Momente. Momente der Bewusstheit. Momente, in denen wir an die grundlegende Kraft der Präsenz, des Daseins, erinnert werden. Wir spüren in diesen Augenblicken den grundlegenden Mangel an SEIN.

      Das ist sehr kostbar. Denn wie oft sind wir im Leben nicht anwesend und uns dessen nicht bewusst? Wie oft verlieren wir uns in Gedankenschleifen – eine innere Geschichte jagt die nächste – ohne uns unserer inneren Entfremdung bewusst zu sein? Oder wir sind emotional aufgewühlt und Stunden oder Tage davon vereinnahmt und spüren in unserer Angst oder dem Schmerz nicht mehr, dass es etwas Grundlegenderes gibt – Dasein. Oder wir sind völlig mit Pflichten und Alltagsaufgaben identifiziert und merken oft erst nach Tagen oder Wochen des Funktionierens, dass wir in dieser Zeit mit unserem grundlegenden Lebendigsein nicht in Kontakt waren.

      Was für ein völlig anderes Lebensgefühl ist es doch, wenn wir anwesend sind. Wenn wir in Augenblicken der Muße, in denen unser Verstand schweigt und wir entspannt auf einer Wiese sitzen und den Vögeln lauschen, ankommen. Wir fühlen uns wieder. Da ist das Empfinden von Raum und Lebendigsein, ohne etwas zu tun. Wir sind angekommen.
       

      Schlafen und Erwachen

      SEIN ist grundlegend. Es ist die Grundlage unseres Lebens. Wie könnten wir unseren Alltagsgeschäften nachgehen, wenn wir nicht sind? Wie könnten wir denken und Gefühle haben, wenn wir nicht sind? Wie könnten wir die Sonnenstrahlen genießen, wenn wir nicht sind? Und doch ist uns dieses grundlegende SEIN sehr oft nicht bewusst. Es ist so selbstverständlich wie der Boden, der uns trägt und die Luft, die wir atmen. Es ist selbstverständlich und wird dadurch kaum mehr wahrgenommen.

      Dabei ist SEIN keine Idee, keine Vorstellung und auch keine Schlussfolgerung, nach dem Motto: "Ich denke, also bin ich". SEIN ist keine gedankliche Realität, sondern die grundlegende Basis unseres Daseins als Mensch und diese Basis ist erfahrbar. Sie muss nicht erdacht oder schlussgefolgert werden. Erst wenn sie für uns zu einer erfahrbaren Realität wird, jenseits von Gedanken und Schlussfolgerungen, entfaltet sie ihre Wirkkraft und kann uns und unser Leben spürbar durchdringen und bereichern.

      Es gibt die Legende von Buddha, als er nach seiner Erleuchtung übers Land geht und zwei Mönche trifft. Den Mönchen fällt sofort die außergewöhnliche Ausstrahlung von Frieden auf, die den Buddha umgibt. Also fragen sie ihn: "Wer bist du? Bist du ein Gott?" Buddha antwortet mit einem schlichten: "Nein". - "Bist du ein Zauberer?" Und wieder antwortet Buddha mit: "Nein". –
      Die Mönche fragen weiter: "Bist du ein Mann?" – "Nein" - "Bitte sag uns doch, wer bist du?" Und Buddha antwortet: "Ich bin wach".

      Was meint Buddha, wenn er sagt: "Ich bin wach"? Es klingt, als ob er uns darauf hinweisen wollte, dass wir alle normalerweise schlafen. Unsere normale Lebenswirklichkeit scheint für Buddha also ein Traum zu sein. Das, was wir als Wachzustand und als Wirklichkeit bezeichnen, ist für ihn ein Traum, aus dem man erwachen kann.

      Ein Traum ist eine bunte subjektive Welt, in die wir eintauchen können und die unser Erleben einfärbt. Wir können uns aber auch des Traumes bewusst werden und daraus erwachen. Vergleichbar mit einem Kinobesuch. Wir tauchen ein in eine bunte Welt und freuen uns oder leiden mit den Figuren mit, aber dann treten wir wieder ins Freie und erwachen zu einer anderen Wirklichkeitsperspektive.

      Genauso erleben wir diesen Vorgang bei nächtlichen Träumen. Obwohl wir sie als äußerst intensiv und real erleben können und vielleicht sogar dabei ins Schwitzen kommen, wachen wir irgendwann auf und es bleibt nur noch eine schwache Erinnerung. Ein flüchtiges Spiel. Wir sind erwacht in eine andere Wirklichkeit und diese erscheint uns jetzt viel realer.

      So eine Art von Erwachen scheint Buddha auch erfahren zu haben, allerdings nicht aus einem nächtlichen Traum, sondern ein Erwachen aus dem Traum der normalen Lebensrealität mit Gedanken, Sorgen, Plänen, Emotionen und Vorlieben. Und plötzlich erscheint ihm diese normale menschliche Realität, in der wir mit Rollen und Vorstellungen identifiziert sind, als traumgleich.

      Aus diesem Grund verneint er auch die Frage: "Bist du ein Mann?", obwohl er offensichtlich männlich ist. Für ihn ist sogar diese offensichtliche menschliche Identität als Mann ein flüchtiges Spiel. Er ist erwacht zu einer anderen Lebenswirklichkeit.
       

      Sein oder "Ich bin"

      In welche Wirklichkeit ist er erwacht? Was hält Buddha für realer und grundlegender als unser menschliches Denken, Fühlen und Handeln? Es ist die allem zugrunde liegende Lebensrealität – das SEIN.

      Das ist leicht zu sehen. Betrachten wir noch einmal die Geschichte. Da fragen die Mönche nach seiner Identität: "Wer bist du?" und Buddha antwortet: "Ich bin wach". Buddha meint also, das was er im Innersten ist, ist Wachheit. Dies ist keine Aussage über sein momentanes Empfinden oder seinen momentanen Zustand, sondern über seine grundlegende Identität, über das, was er zutiefst ist – Wachheit oder Bewusstsein.

      Damit will er nicht ausdrücken, dass es Gefühle und Gedanken für ihn nicht mehr gibt. Die ganze Welt der Erscheinungen, der Rollen und Beziehungen und Alltagsaufgaben, werden weiterhin da sein. Auch sein männlicher Körper ist noch da. Alles, was wir erleben können, kann auch Buddha in seinem Zustand erfahren. Aber er identifiziert sich damit nicht. Er hat erkannt, dass das, was er ist, seine Identität, viel grundlegender ist als alle Erscheinungen dieser Welt. Und diese Identität ist Wachheit.

      Wach zu sein verbinden wir normalerweise damit, mit klaren Sinnen denken, hören oder sprechen zu können. Wenn wir wach sind, sind wir uns der augenblicklichen Situation bewusst. Wachheit braucht Bewusstheit. Genauer: Wachheit ist nichts anderes als Bewusstheit. Wenn Sie als Leser oder Leserin im Augenblick wach sind, dann sind sie sich des Lesens bewusst. Das ist bereits ein kleines Aufwachen. Nicht unbewusst zu lesen, zu atmen und zu denken, sondern sich des Lesens und Atmens und Denkens bewusst zu sein. Dieses Aufwachen nennt man Achtsamkeit und wird in den meisten spirituellen Schulen als Grundlage des Weges in der Meditation geübt.

      Doch Buddha spricht hier nicht von Achtsamkeit. Er meint nicht, dass er sich gerade der augenblicklichen Erfahrung bewusst ist, sondern er spricht von seiner Identität. Er sagt: "Ich bin wach". Oder anders ausgedrückt: "Ich bin Bewusstsein".

      Was ist die Grundlage dafür, achtsam sein zu können? Die Grundlage dafür, jetzt sich des Atmens bewusst zu sein? Es ist das Bewusstsein selbst. Auch diese Fähigkeit des Bewusstseins kann uns bewusst werden. Das ist keine Frage von Reflexion oder von Schlussfolgerung, sondern von unmittelbarer Aufmerksamkeit. Wir können uns des Bewusstseins unmittelbar bewusst werden als die innerste Dimension unserer Wirklichkeit.

      Am leichtesten ist dies möglich in Situationen, in denen wir völlig unabgelenkt von unseren Sinnen und Gedanken aufmerksam sind. Stellen wir uns vor, wir sitzen alleine in einer stillen großen Kirche. Die Atmosphäre von Stille und einem sakralen weiten Raum umfängt uns. Wir werden innerlich ganz ruhig und schließen die Augen. Wir lauschen der Stille. Wir hören nichts, lauschen mit einer immer feiner werdenden Aufmerksamkeit. Wir sind nur noch lauschen. Wir sind Aufmerksamkeit. Kein Geräusch, kein Gedanke, kein Gefühl. Nur reines Aufmerksamsein.

      In einem solchen Moment verdichtet sich unser Erleben. Wir erfahren eine reine, intensive Form des Aufmerksamseins, des Lauschens. Und wir werden uns unseres Seins bewusst. Eines Seins, das noch unbedingt ist, frei ist von Gedanken und Gefühlen, frei von dem, was wir normalerweise sind und womit wir uns immer beschäftigen. Hier herrscht ein klares Erleben von SEIN, von "Ich bin", ungeformt und ungerichtet.

      Das ist ein Erwachen in die Lebenswirklichkeit von SEIN. Eine Wirklichkeit, die unserem Inder-Welt-Sein zugrunde liegt. Eine reine ungeformte Wirklichkeit, aus der alle menschlichen Erfahrungen und Formen erst entstehen. Es ist die Urerfahrung, frei von Konditionierung und Konzepten, die Urerfahrung „zu sein“ oder anders ausgedrückt, die unmittelbare Erfahrung von "Ich bin", von Existenz.

      Auch in der Bibel wird auf diese Urerfahrung hingewiesen, als Gott im alten Testament seinen geheimnisvollen Namen offenbart: "JAHWE" Übersetzt bedeutet dies: "Ich bin der Ich-bin". Die Mystiker aller Zeiten suchten die Verwirklichung dieser direkten Erfahrung von Gott oder SEIN in einer unbedingten Form und der Schlüssel zu diesem unbedingten SEIN ist reines Aufmerksamsein.

      Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zum SEIN. Aber nicht fokussierte Aufmerksamkeit, sondern reines, ungerichtetes Aufmerksamsein. Je unmittelbarer wir in dieses unfokussierte Aufmerksamsein – wir könnten es auch Lauschen nennen – eintauchen, desto klarer entsteht die Erfahrung von Existenz, von „Ich bin“. Diese Erfahrung von SEIN wird Präsenz genannt. Es ist ein klares, intensives Erleben einer dichten immateriellen Substanz – ein Feld von SEIN.

      Je deutlicher diese Präsenz, dieses Bewusstseinsfeld auftaucht, umso klarer erkennen wir, dass dieses Feld die Grundlage allen Seins ist. Auch die Grundlage unseres Seins als Mensch, unseres Körpers und unseres gesamten Erlebens. Und ganz allmählich, je öfter wir die Erfahrung von Präsenz machen, fängt sich an unsere Sichtweise von uns selbst zu ändern. Wir erkennen immer mehr, dass wir nicht ein Mensch mit bestimmten Eigenschaften sind, der die Erfahrung von Präsenz macht, sondern dass unsere innerste Natur SEIN ist, die die Erfahrung eines Menschen mit bestimmten Eigenschaften hervorbringt.

      Plötzlich geht es uns, wie dem Mönch, der davon träumte, ein Schmetterling zu sein und beim Aufwachen nicht mehr wusste, ob er, der Mönch, geträumt hatte, oder ob er nicht in Wirklichkeit der Schmetterling ist, der gerade von einem Mönch träumt. Unsere Welt steht Kopf und für eine gewisse Zeit kann dies sehr verwirrend sein. Doch letztlich wird sich immer mehr im Erleben von Präsenz das Erkennen durchsetzen, dass unsere grundlegende Identität das SEIN ist und nicht unsere begrenzte vorübergehende Form als Mensch.

      Jetzt verstehen wir auch die Aussage Buddhas: "Ich bin wach". Er hat seine wahre Identität erkannt: ungeformtes SEIN, das erfahren wird durch reines, ungerichtetes Aufmerksamsein.
       

      Zugänge zu Präsenz

      Präsenz ist die Urerfahrung unserer Existenz, unseres Seins und insofern eine andere Art von Erfahrung als unsere üblichen menschlichen Erfahrungen. Normalerweise nehmen wir immer innere und äußere Objekte wahr, Gedanken, Empfindungen oder Geräusche und visuelle Eindrücke. Aber in der Erfahrung der Präsenz richtet sich der Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst – und hier ist nur SEIN, ungeformt und ungerichtet.

      Obwohl dieses SEIN uns immer begleitet - es ist schließlich die Grundlage unseres Daseins - braucht es dennoch unsere Aufmerksamkeit, dass es als Präsenz erfahrbar und dadurch für uns zur unmittelbaren Wirklichkeit werden kann. Es gilt zu lernen, unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN auszurichten. Das ist kein Tun und braucht keine Anstrengung. Wir müssen kein anderer werden, als wir sind und es braucht keinerlei Entwicklung.

      Der Zugang zu Präsenz ist mehr ein Erinnern als ein Tun. Ein Erinnern ans SEIN und das einzige, was notwendig ist, dass wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst richten und nicht so sehr auf den Inhalt unserer Erfahrung. Je ausschließlicher das geschieht, desto intensiver die Erfahrung von Präsenz.

      Das ist für uns Menschen oft gar nicht so leicht, da es für unseren Verstand eine ungewöhnliche Perspektive ist, nicht auf die Erfahrungen zu schauen, sondern ungerichtet zu lauschen. Doch so schwer es im ersten Moment erscheinen mag, so selbstverständlich und leicht kann diese Perspektive mit der Zeit werden. Um sich auf diese Perspektive einzustimmen, ist es am hilfreichsten, wenn wir zwei Grundübungen machen: "Das Schauen ins Nichts" und "das Schauen auf die Totalität der Erfahrung".
       

      Schauen ins Nichts

      Beim Schauen ins Nichts wenden wir ein sehr einfaches Prinzip an, das für viele Menschen leicht umzusetzen ist. Wir richten unsere ganze Aufmerksamkeit und unser Interesse auf die Leere. Das ist leichter als wir zunächst denken: Wir lauschen zum Beispiel auf die Pausen der Lautlosigkeit zwischen den Geräuschen. Wir schauen in die vollkommene Dunkelheit. Oder wir achten intensiv auf den Moment der Bewegungslosigkeit in der Atempause zwischen Ausatmen und Einatmen.

      In all diesen Fällen richten wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf das Nichts aus. Unsere Sinne können in der Leere nichts Greifbares wahrnehmen, doch wenn wir vollständig aufmerksam sind ohne eine Wahrnehmung, dann bleibt eine intensive reine Form des Aufmerksamseins. Es stellt sich die Erfahrung des SEINS ein. Denn Aufmerksamsein ohne etwas wahrzunehmen ist nicht Nichts oder etwas Totes, sondern lebendige Präsenz, ungerichtet und formlos. Aus diesem Grund nennt man diesen Zugang auch in manchen Traditionen "Schauen ins nackte Sein".

      Allerdings ist es notwendig, um diese Erfahrung zu machen, dass wir ein wirkliches Interesse für das Nichts, das SEIN selbst entwickeln. Ohne Interesse wird unser Geist sich nicht auf das Nichts konzentrieren können. Und erst in Momenten von vollständiger Konzentration erfahren wir im Nichts intensives SEIN – Präsenz.

      Diese Präsenz ist eine Oase der Reinheit und Ruhe zwischen den Stürmen des Lebens, die uns immer offen steht. Doch dass sie für uns zur Lebenswirklichkeit wird, ein ruhender tragender Pol im Auf und Ab des Lebens, hängt davon ab, wie viel Liebe und Hingabe in uns für das Nichts entsteht. Menschen, die eine tiefe Liebe zum Nichts entwickeln, werden sich auf eine natürliche Weise immer wieder danach sehnen und ausrichten.

      Das ist nicht anders wie bei einer Liebesbeziehung zwischen Menschen. Den Menschen, den wir lieben, suchen wir. Wir wollen sie oder ihn kennen lernen und ihr oder ihm Nahe sein. Liebe richtet unsere Aufmerksamkeit auf eine natürliche Weise auf den oder das Geliebte aus. Lieben wir das Nichts, ist uns das SEIN nah.
       

      Schauen auf die Totalität

      Wenn wir über den Zugang des Nichts das SEIN aufsuchen, haben wir manchmal den Eindruck, dass SEIN eine Dimension jenseits der Erfahrungen und der Erscheinungen der Welt ist. Aber SEIN ist umfassend und schließt nichts aus. Wir können das vergleichen mit der alten Metapher von Welle und Wasser. Wie auch immer Wasser in Erscheinung tritt, als Welle, Bach, See oder Wolke, es ist und bleibt formloses Wasser.

      Und so ist jede Erscheinung, jede Erfahrung und jede Handlung im Grunde durchdrungen von SEIN. Nur weil wir Menschen in der Regel immer sehr fokussiert auf die Oberflächendimension der Phänomene schauen, erfassen wir das Ganze, die grundlegende Dimension darin nicht.

      Wenn wir das Umfassende am SEIN erfahren wollen, ist es daher hilfreich, einen anderen Zugang zu wählen: wir schauen auf die Totalität von augenblicklicher Erfahrung. Auch das ist wiederum nur eine besondere Form unserer Aufmerksamkeit, kein Tun. Dabei machen wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit ganz weit.

      Wir schauen zum Beispiel mit einem "weichen Blick" und erfassen etwas unschärfer das ganze Sichtfeld. Oder wir hören nicht mehr fokussiert auf die einzelnen Geräusche und deren Bedeutung, sondern auf die Ganzheit der Töne ohne Verstehen und ohne den üblichen Zuordnungen. Wie ein kleines Kind, das sich sicher und geborgen fühlt, wenn es die Stimme der Mutter im Hintergrund als Gemurmel hört und dabei nicht auf den Inhalt der Worte achtet. Oder wir spüren die Gesamtheit unserer augenblicklichen Körperempfindungen ohne genauer zu differenzieren, welche Empfindung wohin gehört.

      Das Prinzip ist immer das Gleiche. Wir sind auf eine unscharfe, unfokussierte Weise aufmerksam und erfassen die Totalität der augenblicklichen Wahrnehmung. Je tiefer wir in die Wahrnehmung der Totalität der gegenwärtigen Erfahrung eintauchen und je vollständiger unsere Aufmerksamkeit dabei ist, desto mehr verschwinden alle Differenzierungen und damit auch alle Trennungen, die unser Verstand in der Alltagswahrnehmung erzeugt.

      Es bleibt ein einheitliches dichtes Feld von SEIN, alle Wahrnehmungen einschließend. Präsenz wird hier in seiner umfassenden Dimension erfahren.

      Zum Autor:
      Richard Stiegler gibt Kurse und Ausbildungen in Transpersonaler Prozessarbeit und Schweigekurse. Autor des Buches "Kein Pfad – aus der Stille leben" Verlag Kamphausen und Mitautor des Buches "Was heilt uns? Zwischen Spiritualität und Therapie" Verlag Herder. Info unter www.transpersonale-seminare.de